Die Einsamkeit der Seevögel
Hier ist das Ende der Welt. So beginnen Roman und Schilderung der eisigen Ödnis der namenlosen Ich-Erzählerin in der winterlichen Finnmark. Sie absolviert ein selbstgewähltes Forschungsprojekt zum Einfluss der Klimaveränderungen auf das Verhalten und den Bestand der Seevögel und führt den Leser detailgenau durch die Wetter- und Schneeverhältnisse sowie technischen Möglichkeiten und Herausforderungen bei der erforderlichen Datenerhebung. Mit jedem Tag, der zwischen dem
6. Januar und 22. Februar vergeht, werden sie und der Leser vertrauter mit der Zivilisationsleeren Gegend und der Sehnsucht nach Jo, ihrem Geliebten, der versprochen hatte, ihr nachzureisen. Sie denkt viel an ihre kleine Tochter Lina und ihren Exmann S. und lässt den Leser in zunehmendem Maße teilhaben an ihrem früheren Leben und der Entscheidung, die sie allein in den hohen Norden geführt hat.
In der Fischerhütte, die sie bewohnt, findet die Forscherin schon am zweiten Tag eine Lektüre über die Familie Olaf und Borghild mit ihren fünf Töchtern und dem kleinen Sohn Niels, die 1870 in dieser Gegend lebte. Je mehr die Einsamkeit um die Protagonistin zunimmt, umso mehr gewinnen diese Menschen aus der Vergangenheit Raum und Bedeutung. Das Drama, das diese Familie durch einen fatalen Brand erleidet, wird für die Forscherin, die sich zunehmend mit Borghild und deren Lebenssituation identifiziert, ebenfalls zur Bedrohung. Und je deutlicher wird, das Jo nicht kommt/kommen will, umso mehr wird es Olaf, auf den sich die negativen Fantasien der Forscherin verdichten. So schont sie Jo und ihre Liebe zu ihm und kann doch ihre ganze Wut und Enttäuschung kanalisieren. Die Erzählung wird so dicht und kompakt, dass der Leser, wie die Protagonistin selbst, Schwierigkeiten bekommt, zwischen Wahn- und Traumbildern zu unterscheiden.
Gøhril Gabrielsen lässt uns – in der bemerkenswerten Übersetzung von Hanna Granz - in rauer Kälte an den Gedanken und Gefühlen ihrer Wissenschaftlerin teilhaben – sowie an ihren Überlegungen und Strategien zur Bewältigung der vielfachen wissenschaftlichen und menschlichen Anforderungen in der Einsamkeit. Ein spannendes Buch, das zur Selbstreflexion ermuntert und dabei immer wieder die Einzigartigkeit der nordnorwegischen Winterlandschaft präsentiert. Und am Ende wissen wir, dank akribischer wissenschaftlicher Aufzeichnungen, dass nicht die Seevögel einsam sind…
Rezension: Renate von Rüden
Gøhril Gabrielsen
Die Einsamkeit der Seevögel
aus dem Norwegischen von Hanna Granz
Insel Verlag, Berlin 2019, 174 Seiten
ISBN: 978-3-458-17780-7
Preis: € 20,00